Kassel. Rund 35.000 archäologische Funde aus 10.000 Jahren Menschheitsgeschichte: Die Erdgasleitung OPAL (Ostsee-Pipeline-Anbindungs-Leitung) ist mit über 470 Kilometern nicht nur Deutschlands längste Baustelle, sondern auch eine Schatzkammer für Archäologen. Die Mitarbeiter der zuständigen Landesämter in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen untersuchen bereits seit 2007 die vorgesehene Leitungstrasse auf Zeugnisse vergangener Zeiten. „Der Bau einer Leitung bietet für die Archäologen einen einmaligen Blick unter die Erdoberfläche“, erklärt Bernd Vogel, Geschäftsführer der OPAL NEL TRANSPORT GmbH.
Die Gesellschaft ist ein Unternehmen der WINGAS-Gruppe und wird den technischen Netzbetrieb der OPAL-Leitung übernehmen, die die europäischen Verbraucher über die Ostsee-Pipeline Nord Stream künftig direkt mit den großen russischen Erdgaslagerstätten in Sibirien verbindet. Vogel: „Besonders freut uns natürlich, dass die Denkmalpfleger entlang der OPAL nicht nur zahlreiche Fundstücke zu Tage gefördert, sondern auch historisch spektakuläre Bodenschätze aufgefunden haben.“
Während in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen die Bauarbeiten bereits weit fortgeschritten und damit die Ausgrabungen größtenteils abgeschlossen sind, legen Mitarbeiter des Landesamtes in Brandenburg gerade das größte Gräberfeld entlang der Trasse frei: Im Frühsommer entdeckten die dortigen Denkmalpfleger in der Nähe von Großbahren (Landkreis Elbe-Elster), 50 Kilometer westlich von Cottbus, über 350 Gräber aus der Bronzezeit. „Wir haben es hier mit einem der größten Friedhöfe aus der Zeit von 1300 bis 500 vor Christus zu tun“, erläutert die zuständige Referatsleiterin des Landesamtes für Denkmalpflege in Brandenburg, Dr. Sabine Eickhoff, die Bedeutung des Gräberfeldes. Neben den Urnen finden sich zahlreiche Beigaben in den Gräbern. „Da die Menschen dieser Zeit an ein Leben nach dem Tod glaubten, fügten sie den Gräbern persönliche Gegenstände des Toten bei: Schmuckstücke wie Perlen oder Waffen wie Pfeilspitzen aus Bronze und Tierknochen.“
„Neben den aufwendig gestalteten Tongefäßen haben wir auch zwei bronzezeitliche Rasseln gefunden, die ihre Funktion selbst über die vielen Jahre unter der Erde nicht eingebüßt haben“, erzählt die Referatsleiterin. „Hier kann man noch den Klang aus der Bronzezeit hören.“ Es ist nicht die einzige Rarität, die unter Brandenburgs Erde entdeckt wurde. Die 75 Mitarbeiter des Landesamtes für Denkmalpflege stießen in dem Bundesland auf die höchste Funddichte entlang der OPAL-Trasse. Unter anderem konnte in der Uckermark bei Grünow der älteste Kupferfund Brandenburgs geborgen werden: Ein spitz zulaufendes Kupferband mit Anhänger, das zu Beginn der Zeitrechnung getragen wurde. Auch die älteste Bestattung aus der mittleren Steinzeit befand sich entlang der Route der Erdgasleitung.
Über 7.000 Jahre alte Bodenschätze
Erfolgreich waren die archäologischen Untersuchungen auch in Mecklenburg-Vorpommern: So räumt die Vielzahl und die Qualität der Funde mit dem Vorurteil auf, dass Vorpommern über die Jahrtausende hinweg eine wenig besiedelte Region gewesen ist. Unter anderem stießen die Grabungsteams im Landkreis Ostvorpommern bei Wrangelsburg auf Reste einer bronzezeitlichen Siedlung mit Ofenanlagen, Feuerstellen und Vorratsgruben und in Steinfurth bei Karlsburg entdeckten die Archäologen ein über 2.000 Jahre altes Gräberfeld. Die 80 Bestattungen stammen aus der vorrömischen Eisenzeit und datieren auf das fünfte bis dritte Jahrhundert vor Christus. Hier entdeckten die Denkmalpfleger auch einige Eisenverhüttungsplätze aus den ersten Jahrhunderten nach Christus. Der wohl außergewöhnlichste Fund ist eine Goldmünze, die die Experten in der Nähe der ostvorpommerschen Ortschaft Gustebin aus der Erde holten. Sie wird auf das 6./7. Jahrhundert datiert. „Es sind nur sieben vergleichbare Exemplare in Europa bekannt", erklärt Dr. Jens-Peter Schmidt, verantwortlicher Archäologe beim Schweriner Landesamt. Wie das Stück nach Vorpommern gelangte und warum es in der Nähe eines 500 Jahre jüngeren Besiedlungsplatzes gefunden wurde, wird noch erforscht.
Im Gegensatz zu den 272 Fundstellen in Brandenburg und den 169 in Mecklenburg-Vorpommern erscheint die Zahl von 17 für Sachsen eher gering. „In unserem Bundesland liegt das Gebiet des Erzgebirges, aufgrund dessen geologischer Struktur des Untergrundes der Trassenverlauf auf 70 von 100 Kilometern praktisch ohne einen einzigen Befund geblieben ist“, erklärt Dr. Christoph Steinmann, Leiter der Grabungsarbeiten. In der Nähe der Elbe stießen die Mitarbeiter des Landesamtes für Archäologie dennoch auf außergewöhnliche Funde. Das größte Objekt, das geborgen werden konnte, ist ein Gefäß mit einem Durchmesser von fast einen halben Meter und einer Höhe von 34 Zentimeter. Nur 14 Millimeter misst dagegen das kleinste Objekt, auf das die Archäologen stießen: eine Bernsteinperle aus dem dritten Jahrhundert. „Da Bernstein in Sachsen nicht zu finden ist, bezeugt sie weiträumige Handelsbeziehungen, die die ‚Ur-Sachsen‘ unterhalten haben müssen“, erläutert Steinmann. „Die Grabungen entlang der Trasse haben eine ganze Reihe solcher erstaunlicher Ergebnisse zu Tage gefördert. Dazu zählen auch die Vielzahl jungbronzezeitlicher Siedlungen, die ein neues Nachdenken über die Siedlungsdichte und Intensität des Landesausbaus der Jahrhunderte um 1.000 vor Christus erzwingen.“
Besonders stolz sind die Mitarbeiter des sächsischen Landesamtes für Archäologie auf einen 1.700 Jahre alten Holzbrunnen, den sie bei Kalkreuth, rund 30 Kilometer nördlich von Dresden, gefunden haben. „Das Grundprinzip der bewährten Konstruktion zur Wassergewinnung hat sich demnach seit Jahrtausenden nicht geändert“, sagt Steinmann. Der Holzbrunnen ist so gut erhalten, dass die Wissenschaftler zudem über 100 verschiedene Pflanzenarten nachweisen konnten, die in der Umgebung des Brunnens gewachsen sind. Steinmann: „Einige Unkräuter wie die Kornblume treten damit zum ersten Mal zu dieser Zeit in der Region auf.“ Auch die über 20.000 Keramikscherben, die wenige Kilometer von der Elbe entfernt gefunden worden waren, wecken das Interesse der Denkmalpfleger. „Die Scherben von Brockwitz gehören zu den ältesten Siedlungsnachweisen, die im Elbtal bislang gefunden worden sind“, betont der Mitarbeiter des Landesamtes. Die Scherben stammen aus der Zeit der Linienbandkeramik, die die Anfänge der Keramikherstellung und des Ackerbaus in der Region vor mehr als 7000 Jahren markieren.
Archäologische Ausstellungen
Interessierte Bürger haben die Möglichkeit, eine Vielzahl der geborgenen Fundstücke in Ausstellungen zu besichtigen. Die nächste Möglichkeit besteht ab dem 18. November 2010 in Brandenburg an der Havel. Im dortigen Paulinerkloster werden die „Archäologische Schmuckstücke entlang Brandenburgs längster Gastrasse“ gezeigt. In Mecklenburg-Vorpommern erhalten alle Archäologie-Interessierten ab 18. Januar 2011 im Pommerschen Landesmuseum Greifswald die Gelegenheit „Schätze aus dem Leitungsgraben“ zu entdecken.